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Der goldenen Sarkophag

Text und Bilder: Dr. Frank Wieland


Die Welt sah vor Millionen von Jahren völlig anders aus als heute. Die Tierwelt unterschied sich zum Teil deutlich von der unseren. Vermutlich wünscht sich jeder Tier- und Pflanzenfreund, in der Zeit zurückreisen zu können, um die Welt von damals zu erkunden. Zeitreisen sind jedoch unmöglich, wenn man der Physik Glauben schenken darf.

Blick in die Vergangenheit
Es gibt jedoch Möglichkeiten, Einblicke in das Leben vergangener Erdzeitalter zu bekommen. Fossilien sind die Überreste von Tieren und Pflanzen, die vor vielen Millionen Jahren unseren Planeten bevölkerten. Kompressionsfossilien zum Beispiel sind Überreste von Organismen, die zumeist plattgedrückt im Gestein gefunden werden. Auch gibt es Fossilien, bei denen der Organismus nur Spuren hinterliess, beispielsweise versteinerte Fährten, die in der Urzeit in den weichen Schlick am Ufer eines Sees hinterlassen wurden. Die meisten Fossilien sind zwar höchst informativ für die Wissenschaft und können uns viel über die Lebewesen sagen, deren Überreste im Stein Jahrmillionen überdauert haben. Aber wie ein Tier in Fleisch und Blut tatsächlich ausgesehen hat, bleibt in den meisten Fällen Spekulation.
Nur Forscher, die sich mit kleinen Organismen wie Spinnen, Insekten oder auch Pilzen und Kleinst-Pflanzen beschäftigen, sind in einer komfortableren Situation: Sie können auf faszinierende Fossilien zurückgreifen, die ihnen exakt zeigen, wie die betreffenden Lebensformen zu Lebzeiten aussahen – Fossilien in Bernstein.

Fossiles Baumharz
Der warm golden glänzende, oft klare Bernstein ist das ausgehärtete Harz von Bäumen, die vor sehr langer Zeit lebten. Das austretende Harz von Urzeitbäumen lief an den Stämmen herunter oder tropfte auf den Boden. Dabei blieben oft kleinste Organismen am Harz kleben und wurden darin eingeschlossen. Die zähe Flüssigkeit konservierte die Opfer in vollkommendem Detailreichtum.

Moskito, Baltischer Bernstein, Frank Wieland
Bernstein konserviert die eingeschlossenen Organismen bis ins kleinste Detail. Am Beispiel dieser Mücke aus dem Baltischen Bernstein erkennt man bei höherer Vergrösserung deutlich die einzelnen Facetten des Komplexauges und jedes einzelne Haar. (Foto: Frank Wieland)

Die chemische Zusammensetzung des Harzes veränderte sich im Lauf der Zeit durch die Ausdünstung verschiedener Inhaltsstoffe. Dabei vernetzten sich die Moleküle des Harzes, wodurch es immer fester wurde und die Eigenschaften des Bernsteins annahm, wie wir ihn kennen. Dazu zählen seine Brennbarkeit, seine enorme Leichtigkeit – er schwimmt im Salzwasser – und die elektrische Aufladbarkeit. Die Vorstufe des Bernsteins nennt man Kopal. Er ist nur wenige Jahrzehnte bis Jahrzehntausende alt. Bei ihm ist das Harz noch nicht vollständig frei von seinen flüchtigen Bestandteilen, und seine Moleküle sind noch nicht komplett vernetzt.

Fenster in verschiedene Zeiten
Bernstein wird in vielen Ländern gefunden. Besonders wichtige Fundorte in Europa sind das Baltikum und Bitterfeld, weltweit unter anderem Myanmar, der Libanon, Indien, Nordamerika und die Dominikanische Republik. Der Bernstein, der an diesen Orten gefördert wird, ist unterschiedlich alt. Während der Baltische und der Bitterfelder Bernstein etwa 40-45 Millionen Jahre alt sind, lebten die Tiere des Dominikanischen Bernsteins noch vor rund 20-25 Millionen Jahren. Bernstein aus Myanmar und dem Libanon ist stolze 100-125 Millionen Jahre alt. Vor kurzem wurden zum ersten Mal sehr alte Gliederfüsser aus dem Bernstein der Dolomiten in Italien beschrieben. Es handelte sich um winzige Vorfahren der heutigen Gallmilben. Dieser Bernstein hat ein Alter von sogar 230 Millionen Jahren. Der älteste bisher gefundene Bernstein entstand vor 320 Millionen Jahren. Bisher wurden darin jedoch keine tierischen Einschlüsse entdeckt.

Eingeschlossene Vielfalt
Die Zeugnisse des Lebens im Bernstein sind fantastisch. Die Insekten, Spinnen und anderen Krabbler sind bis ins kleinste Detail erhalten und können von Zoologen problemlos in den Stammbaum des Lebens eingeordnet werden. Zahlreiche Pilze, Wimpertierchen und andere Kleinstorganismen, die nur unter dem Mikroskop erkennbar sind, wurden bereits nachgewiesen. Aber auch Skorpione, Gottesanbeterinne, Hundertfüsser und sogar Geckos überdauerten im goldenen Sarkophag.
Oftmals geben die Einschlüsse auch Einblicke in das Verhalten der Tiere. Beispielsweise wurden aus dem Bernstein Paarungen von Insekten beschrieben, Spinnennetze für die Ewigkeit konserviert, und es gibt Belege dafür, dass die kleinen Bücherskorpione sich bereits vor Jahrmillionen an Fliegen und anderen Gliederfüssern festhielten, um so per Taxiservice „gratis“ zu reisen.

Im Licht der Evolution
Viele der Tiere in Bernstein spielen eine grosse Rolle in der Erforschung der Evolution des Lebens auf der Erde. Wenn eine Fliege im 100 Millionen Jahre alten Bernstein einer heute lebenden Fliegengruppe zugeordnet werden kann, dann ist dies ein Beweis dafür, dass diese Gruppe seit jener Zeit auf unserem Planeten existiert. Gottesanbeterinnen in Bernstein zeigen uns, wie die Evolution dieser Insekten abgelaufen sein muss. Bernsteinfossilien ermöglichen uns einen Blick durch das Fenster der Vergangenheit, und zusammen mit dem Wissen über die heutigen Tiere vermag die Wissenschaft so Wissenslücken zu schliessen.

Science Fiction?
Doch nicht immer ist das Fenster glasklar. Bernstein ist häufig trüb oder verlumt (weisslich und undurchsichtig geworden)einerseits durch eingeschlossene Schmutzpartikel, andererseits durch bei der Verwesung des Organismus ausgetretene Gase und Abbauprodukte. Oft schaut dann nur noch die Spitze eines Spinnenbeinchens oder der Schattenriss einer Wespe aus dem trüben Stein hervor. Moderne Technik macht es jedoch möglich, auch solchen Stücken ihre Geheimnisse zu entlocken. Mit der Röntgenmikrotomographie werden die Stücke mit stark gebündelter Röntgenstrahlung beschossen. Das Ergebnis sind tausende von Schnittbildern, aus denen Schicht für Schicht das ganze Tier im Computer wieder zusammengesetzt werden kann. Die Technik ist mittlerweile soweit fortgeschritten, dass die Tiere aus dem Bernstein mit jedem Detail rekonstruiert werden können – wenn vorhanden sogar einschliesslich ihrer inneren Organe! Aus den Computerdaten können dann in 3D-Druckern die Tiere in Übergrösse ausgedruckt und studiert werden.: Wirklichkeit gewordene Science Fiction.

Beliebter Schmuck
Nicht nur seine wissenschaftliche Bedeutung macht Bernstein beliebt und berühmt. Auch seine ästhetische Seite spielt eine grosse Rolle. Bernstein wird aufgrund seiner wunderschönen, goldenen Farbe seit etwa 13’000 Jahren als Schmuck verwendet, wie Funde aus dem Baltikum zeigen. Die zurechtgeschliffenen Steine werden als Ringe, Ketten oder Broschen getragen. Die Faszination am Bernstein ging so weit, dass zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Auftrag des Preussenkönigs Friedrichs I. im Berliner Stadtschloss das berühmte Bernsteinzimmer entstand, dessen gesamte Wandverkleidung aus dem goldenen Harz der Urzeit gefertigt wurden.