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Geschichten zu Fauna und Flora

AllgemeinAusgestorben

Ausgestorben: Der kurzsichtige Rüsseler

Text: Jürg Sommerhalder
Bilder: DagdaMor und Ghedoghedo (Wikipedia)

Als Eozän wird ein Erdzeitalter bezeichnet, das vor 56 Millionen Jahren  begann und 22 Millionen Jahre lang dauerte. Aus faunistischer Sicht war diese Epoche geprägt von einer sprunghaften Evolution der Säugetiere. So etwa entstanden zu dieser Zeit die Unpaarhufer (Pferde, Nilpferde und Tapire), die Fledertiere (Fledermäuse und Flughunde) und der artenreiche Zweig der Nagetiere.  Auch wir haben unseren Ursprung im Eozän, denn es brachte ausserdem die Primaten hervor, also die beiden Unterordnungen Trocken- und der Feuchtnasenaffen, wobei erstere die Menschenaffen und damit auch uns Menschen einschliesst.

Nebst den Vorfahren heute auf der Erde verbreiteter Tiere brachte das  Eozän – wie jedes Erdzeitalter – auch Entwicklungen hervor, die sich auf lange Sicht nicht durchsetzen konnten. Eines davon war das Macrocranion. Die Grube Messel  gab zahlreiche Fossilien dieses Ursäugers frei. Nebst vollständigen Skeletten fand man auch mehrere Bakteriographien dieser Tiere. Dabei handelt es sich um Versteinerungen von Bakterien während des Zersetzungsprozesses der Weichteile einer fossilen Lebensform. Dadurch wurden nicht die Weichteile selbst, aber detailreiche bakterielle Abbilder davon konserviert.

Dank dieser aufschlussreichen Fossilien ist die Zeichnung eines ziemlich exakten Bildes des Macrocranions möglich. Tatsächlich konnte in Messel sogar zwischen zwei verschiedenen Arten unterschieden werden. Beide waren sie von grazilem Körperbau, hatten spitz zulaufende Schnauzen mit Tasthaaren und einer beweglichen Nase, grosse Ohren und einen langen, dünnen Schwanz, der mit ein paar wenigen Knochenplättchen bedeckt war.

Macrocranion tenerum, reconstruction, DagdaMor/Wikipedia
Zeichnung von Macrocranion tenerum (Bild: DagdaMor/Wikipedia)

Die grössere der beiden Arten (Macrocranion  tupaidon) erreichte eine Körperlänge von knapp 20 cm und einen ähnlich langen Schwanz. Sie trug ein dichtes, wolliges Fell. Die andere Art (Macrocranion tenerum) blieb um etwa einen Drittel kleiner und war nur bauchseits behaart, rückenseitig aber mit einem Stachelkleid bewehrt.

Verschiedenen Ausprägungen am Kopfskelett lassen vermuten, dass Geruchs- und Tastsinn der Macrocranionen eine wichtige Rolle spielten, der Gesichtssinn hingegen eher schwach ausgeprägt war. Die Analyse der Gliedmassen ergab stark ausgebildete Hinter- und vergleichsweise schwach ausgebildete Vorderbeine. Zudem hatten die Tiere hufartige Klauen. Aufgrund dieser Merkmale wird den Macrocranionen eine strikte Lebensweise am Boden nachgesagt, wo sie sich gehend und hüpfend fortbewegten, den Boden mit der Nase sondierend. Magen-/Darminhalts-Analysen sowie die Ausprägung der Gebisse der Messel-Fosilien zeigten auf, dass Macrocranionen Allesfresser waren, die nebst pflanzlicher Nahrung auch Kerbtiere und Fische verspeisten.

In der belgischen Brabant-Region bei Dormaal wurden fossile Reste zweier weiterer Arten entdeckt, ebenso gab es Funde an der belgisch-französischen Grenze und zahlreiche weitere in Nordamerikas Westen. Im Gegensatz zu den grossartigen Messel-Fossilien musste sich die Paläontologen anderenorts jedoch stets mit  Skelett- und Gebissfragment-Funden bescheiden.

Die Macrocranionen systematisch einzuteilen scheint eine schwierige Angelegenheit zu sein. Ihr evolutionäre Seitenzweig ist längst ausgestorben, Ähnlichkeiten mit Tieren  der Neuzeit findet man am ehesten unter den Insektenfressern (Eulipotyphla), zu denen etwa unser Igel gehört. Andere Systematiker stellen die Macrocranionen aufgrund von Charakteristika des Gebisses aber eher in die Nähe der afrikanischen Rüsselspringer (Macroscelidea), die ihrerseits nicht verwandt sind mit den Insektenfressern. Folglich lassen die Macrocranionen heute eine einzige gesicherte Aussage bezüglich ihrer Systematik zu: Sie waren Höhere Säugetiere. Alles andere bleibt vorderhand im Nebel – was den Macrocranionen allerdings seit vielen Millionen Jahren egal sein dürfte.

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