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Adoption auf Russisch: Ankunft (Teil 1)

 Vorbemerkung: Dieser Beitrag wurde ursprünglich für die Pilot-Ausgabe einer neuen Schweizer Natur-Zeitschrift produziert, die den Weg in den Periodika-Markt am Ende doch nicht geschafft hat. Später diente sie als Ausgansgpunkt für das Buch “Ungezähmt”, welches vom Verlag Wörterseh und der unvergleichlichen Gabriella Baumann–von Arx verlegt wurde – und dessen Kauf und Lektüre wir allerwärmstens empfehlen!

Text: Jürg Sommerhalder
Fotos: Reno Sommerhalder

Der MI-8, ein alter sowjetischer Armee-Hubschrauber, donnert einem entlegenen Zipfel im Süden der russischen Halbinsel Kamchatka entgegen. Kamchatka gehört zum ostasiatischen Teil Russlands. Weiter östlich liegt bereits das benachbarte Alaska und vom südlichen Kap Lopatka aus deutet die Inselkette der Kurilen einem ausgestreckten Zeigefinger gleich auf die japanischen Inseln.

In der Maschine sitzt nebst dem Piloten nur Reno Sommerhalder. Der 44-jährige Kanada-Schweizer ist ein anerkannter Experte für wildlebende Bären. Mit dieser Reise folgt er der Einladung des kanadischen Grizzly- Spezialisten Charlie Russel. Der lebt seit zehn Jahren in Kamchatka und studiert hier das Verhalten von Ursus arctos, dem Braunbären. Sein besonderes Interesse gilt dem Verhalten dieser Art gegenüber dem Menschen. Russel hat vor wenigen Wochen vom Direktor des Naturschutzparkes Yuzhno Kamchatky Zapovednik fünf durch Wilderei verwaiste Jungbären erhalten und benötigt Hilfe bei deren Auswilderung.


Helikopter-Aussicht, Kamchatka
Der Blick aus dem tief fliegenden Helikopter offenbart einen karge Landschaft mit alpin anmutender Vegetation (Foto: Reno Sommerhalder)

Der Passagier drückt seine Nase ans Fenster des Hubschraubers und schaut nach unten. Die russische Tundra: Steinbirken- und Zwergpinienwälder wechseln sich ab mit saftig- grünen, blumendurchsetzten Magerwiesen sowie unzähligen Seen und Tümpeln.
Mit rund 150 Vulkanen, von denen viele noch aktiv sind, ist die Halbinsel eine der vulkanreichsten Gegenden der Erde.
Ausgangspunkt dieser letzten Etappe einer langen Reise ist Petropavlovsk gewesen. Die einzige Grossstadt auf der Halbinsel – die Einheimischen nennen sie liebevoll P.K. – beherbergt knapp 200’000 Einwohner. Das ist mehr als die Hälfte der Gesamtbevöl– kerung Kamchatkas. Auf einer Fläche von der Grösse der Schweiz, Deutschlands und Österreichs leben hier nur gerade 380’000 Menschen.

Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Halbinsel während 50 Jahren militärisches Sperrgebiet und der Zugang sowohl Ausländern als auch Russen verwehrt gewesen. Die Wildnis Kamchatkas war zu Zeiten der Entmilitarisierung deshalb nahezu unberührt und intakt. Sie gehorchte noch den alten Rythmen der Natur. In Anerkennung ihrer Schönheit und biologischen Vielfalt erklärten die Vereinten Nationen im Jahre 1996 einige Flecken Kamchatkas zum UNESCO-Weltnaturerbe.
Die 1500 km lange Küste Kamchatkas ist weltweit eines der letzten, mächtigen Bollwerke des pazifischen Lachses. Mehr als 25 Prozent seiner noch existierenden Population belebt die Wasserwege der Halbinsel. Rund 1100 Pflanzenarten gedeihen hier, ein Zehntel davon endemisch. Gegen 100 Vogelarten werden dieser Region zugeordnet, darunter der Riesenseeadler (Haliaeetus pelagicus). Die erst vor wenigen Jahren in Kamchatka entdeckte Population dieser extrem bedrohten Art hat ihren weltweit bekannten Bestand nahezu verdoppelt.

Bärenreiches Kamchatka, Foto: Reno Sommerhalder
Die russische Halbinsel Kamchatka ist ein der bärenreichsten Gegenden der Erde.  (Foto:Reno Sommerhalder)

Doch der wahre König dieses Ökosystems ist der Braunbär. Die wilde, naturbelassene Abgeschiedenheit der Gegend und ihr botanischer Artenreichtum bieten ideale Voraussetzungen für Meister Petz. Er erreicht hier die weltweit höchste Populations- dichte. Der hiesige Bestand wird auf über 10’000 Exemplare geschätzt.
Der Hubschrauber landet schliesslich in der Nähe einer Blockhütte, die sich am Ufer eines kleinen Sees in einen Talkessel schmiegt. Während des Landeanfluges hat der Neuankömmling hinter einer nahen Hügelkuppe einen Blick auf die Ochotskische See erhascht. So nahe an der Küste herrscht hier ein rauhes, starken Schwankungen unterworfenes Klima. Während die Seen im Juni noch zugefroren sein können, vermögen die Sommermonate 30 und mehr Wärmegrade zu erzeugen. Harte, kalte Winde fegen von der See her ganzjährig übers Land und sorgen auf einer Höhe von nur 300 Metern über Meereshöhe für eine hochalpine Flora. Als der Neuankömmling mit eingezogenem Kopf aus dem Flugzeug klettert, entdeckt er Charlie Russel, der beim Landeplatz wartet. Ein breites Grinsen und eine kurze Umarmung müssen im Sturm des Rotors genügen, denn dem Neuankömmling bleibt kaum Zeit, das Gepäck aus dem Hub- schrauber zu zerren bevor der russische Pilot die Maschine steil hochzieht und dröhnend hinter der nächsten Höhe entschwindet.

Charly Russels Hütte im menschenleeren Süden Kamchatkas liegt am Fusse des Kambalny Vulkans und ist nur während der wenigen Sommermonate bewohnbar (Foto: Reno Sommerhalder)

Die Männer gehen die paar Schritte bis zur Hütte. Sie ist etwa fünf auf zehn Meter gross und mit roh gezimmerten Holzmöbeln ausgestattet. Ein paar Solarpaneele und ein Windrad spenden ein wenig Strom für PC und Satellitentelefon und für den Elektro- zaun, der das Gehege neben dem Haus umfasst und dessen Bewohner vor wilden Bärenmännchen schützen soll. Reno trifft erstmals seine fünf Adoptivkinder: Sheena, Gina, Wilder, Sky und Buck. Die fünf kaum katzen-grossen Wollknäuel weichen scheu zu- ruck und beäugen den Fremdling misstrauisch, als er an den Zaun tritt.

Braunbären werden im Januar oder Februar in der Winterhöhle ihrer Mutter geboren. Sie wiegen bei der Geburt gerademal 500 Gramm, sind nackt und blind. Die Höhle verlassen sie, abhängig von der Kapitulation des Winters, erstmals zwischen April und Juni. Bis zu diesem Zeitpunkt nehmen sie ausschliesslich Muttermilch zu sich, wiegen aber bereits drei bis fünf Kilogramm. Der Fettgehalt der Bären-Muttermilch beträgt bis zu 33 Prozent. Dieser extrem hohe Wert wird im gesamten Reich der Säugetiere nur noch von demjenigen der Walmilch übertroffen.

Hier gehts zum Teil 2 dieser Geschichte

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