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Adoption auf Russisch: Abschied (Teil 3)

Vorbemerkung: Dieser Beitrag wurde ursprünglich für die Pilot-Ausgabe einer neuen Schweizer Natur-Zeitschrift produziert, die den Weg in den Periodika-Markt am Ende doch nicht geschafft hat. Später diente sie als Ausgansgpunkt für das Buch “Ungezähmt”, welches vom Verlag Wörterseh und der unvergleichlichen Gabriella Baumann–von Arx verlegt wurde – und dessen Kauf und Lektüre wir allerwärmstens empfehlen!

Haben Sie die ersten beiden Teile dieser Geschichte schon gelesen?
Hier gehts zum 1. Teil
Hier gehts zum 2. Teil

Text: Jürg Sommerhalder
Fotos: Reno Sommerhalder

Eines Abends sind die Männer nach einer Tageswanderung mit ihren Schützlingen auf dem Heimweg. Nach einer Rast wollen die fünf Bären nicht mehr weiter. Der sonst so probate Lockruf „Fisch! Fisch!“ entlockt Sheena heute nur ein herzhaftes Gähnen, während die übrigen sich unter einer Erle ein Nachtlager scharren. Charlie und Reno begreifen, dass die Jungbären sich in diesen Moment dazu entschieden haben, auf ihrer Freiheit zu bestehen. Obschon der Zeitpunkt deutlich zu früh ist – junge Braunbären werden von ihren leiblichen Müttern im Normalfall zwei bis vier Jahre lang begleitet – scheinen diese Bärenkinder instinktiv zu begreifen, dass ihre Familienkonstellation aussergewöhnlich ist und passen ihr Verhalten an. So ziehen ihre menschlichen Ersatzmütter widerstrebend zum ersten Mal alleine nach Hause. Sie liegen die ganze Nacht wach und schrecken bei jedem Geräusch auf…

Charlie Russel, Braunbärenwelpe, Kamchatka, Foto: Reno Sommerhalder
Der Herbst ist da und die jungen Bären werden immer träger. Ihr Tagesablauf besteht nur noch aus Fressen und Schlafen. (Foto: Reno Sommerhalder)

Von diesem Tag an gehen die Bären ihre eigenen Wege. Anfangs lassen sie sich noch täglich bei der Hütte blicken, holen sich ihr Zusatzfutter und unternehmen Wanderungen mit ihren Menschenvätern. Aber sie entscheiden fortan selber, wann sie dies tun. Schliesslich verzichten sie zum Erstaunen und zur Freude ihrer Betreuer aufgrund des reichhaltigen natürlichen Futterangebots dieses Spätsommers oftmals freiwillig auf das „leichte“ Futter von Menschenhand. Ihre Besuche werden noch seltener, manchmal sehen die Männer ihre Schützlinge zwei oder drei Tage lang nicht.

Auf einer der selten gewordenen  gemeinsamen Wanderungen begegnen sie dem grossen Bärenmännchen wieder, das schon während des Sommers nach den Jungen geschnuppert, aber jeweils entschieden hatte, dass diese Jungbären zu gut geschützt waren. Diesmal jedoch , angesichts des nahenden Winters und der noch fehlenden Fettreserven, weicht er nicht aus, sondern folgt ihnen in sicherem Abstand, verfolgt sie ganz offen- sichtlich. Pötzlich beginnt er aufzuholen, verkürzt den Abstand rasch. Er tut dies ohne Anzeichen von Aggression den Menschen gegenüber aber mit deutlichem Interesse an den Jungbären. Schliesslich kommt er bedrohlich nahe, sodass Reno sich ihm zuwendet und mit den Armen fuchtelnd und brüllend auf ihn zurennt. Der Bärenkenner will mit diesem waghalsig klingenden Verhalten Dominanz demonstrieren und sein Plan geht auf: Der riesige Bär dreht sich augenblicklich um und ergreift die Flucht. Eilig treiben die Männer ihre Bären heim. Doch kurz vor der Hütte steht der Alte plötzlich wieder vor ihnen auf dem Pfad, hat ihnen offenbar den Weg abgeschnitten. Sie weichen aus, umgehen ihn in einem grossen Bogen und schaffen es schliesslich in den Schutz des Elektrozauns.

Rund zwei Wochen später, es ist jetzt Mitte Oktober, bleiben die Jungen länger weg als je zuvor. Bereits vier Tage suchen die Männer vergeblich im anhaltenden, zähen Herbstnebel nach ihnen. Mitten in der Nacht kommen polternd und ängstlich wuffend Sheena und Gina nach Hause. Sie stehen unter Stress, wurden offenbar von ihren Geschwistern getrennt. Die Männer glauben, dass sie dem gefährlichen Alten begegnet sind. Sie sichern die beiden Tiere mit dem Elektrozaun. Noch in derselben Nacht löst der Nebel sich auf und am Morgen leuchtet der Himmel blau. Reno klettert auf das Dach der Hütte und sucht die Umgebung mit dem Fernglas ab. Am gegenüberliegenden Ufer des Sees entdeckt er auf halber Höhe des Berges zwei der Jungen, offensichtlich auf der Flucht vor dem alten Männchen, das weiter unten am Berg mit der Nase am Boden der Spur der Geschwister folgt.

Sheena, Foto: Reno Sommerhalder
Auch Sheena liebt das Spiel mit ihren menschlichen Ersatzmüttern (Foto: Reno Sommerhalder)

Die Männer rennen hinunter zum Ufer und springen ins Boot. Sie rudern über den See, wie von Sinnen brüllt Charly bereits, als sie noch mitten auf dem Wasser sind, um den Alten abzulenken. Der hört ihn nicht. Dann endlich Land, die Männer springen aus dem Boot, hetzen den Berg hoch, noch immer schreiend und fuchtelnd. Jetzt endlich hört sie der Alte. Sofort lässt er von seiner Spur ab und sucht zügig das Weite. Die beiden Jungen – es sind Sky und Wilder – sind so verängstigt, dass sie auch vor den Männern zurückweichen. Langes Zureden und schliesslich ein vorsichtiges Schnuppern an bekannt riechenden Händen brechen den Bann. Während Russell das Boot zurückrudert, lassen sich die Bären von Reno um den See herum zur Hütte führen. Sheena und Gina scheinen ihre Halb-Geschwister überschwänglicher zu begrüssen als sonst.
Obschon die Männer sicher sind, Buck an den alten Räuber verloren zu ha- ben, versuchen sie nicht, die anderen vier einzusperren, als sie am nächsten Tag wieder weg wollen.

Vier Tage später befinden sich die Männer mit den verbliebenen vier Jungbären auf einer Wanderung, als Sky plötzliche von einem Lachs ablässt, den sie kaum angefressen hat und stattdessen mit der Nase am Boden in den Wald läuft. Die anderen Bären und die beiden Menschen fol- gen ihr und stossen schliesslich auf – Buck. Die Männer staunen: Buck war immer das schwächste der fünf Jungen gewesen, hat sich jetzt aber vier Tage lang alleine durchgeschlagen und war dem alten Bärenmännchen entkommen.

Ende Oktober beginnt es zu schneien, Die jungen Bären wiegen jetzt 45 Kilogramm. Etwa zwei Wochen vor Antritt des Winterschlafs beginnt der Metabolismus der Braunbären sich zu verlangsamen. Die Jungen werden immer träger, verschwenden keine Energie mehr mit Spielen und Herumtollen. Sie schlafen und fressen den ganzen Tag. Schliesslich nehmen sie immer weniger Nahrung zu sich, und am 7. November beziehen sie endgültig ihr Winterquartier. Sie haben im Spätherbst instinktiv damit begonnen, eine Grube auszuheben. Doch ohne Hilfe der Mutter sind sie diesmal nicht weit gekommen. Charlie hat ihnen deshalb mit einer Holzabdeckung über ihrer Grube ausgeholfen. Rasch legt sich eine isolierende Schneeschicht darüber. Die Männer nehmen Abschied. Sie müssen jetzt schnellstens verschwinden, bevor der Winter vollends herein- bricht und sie mit einer viele Meter dicken Schneeschicht für Monate von der Umwelt abscheidet. Einige Tage später nutzen sie ein kurzes Aufklaren der hereinbrechenden Winterstürme und lassen sich ausfliegen.

Charlie Russel & Reno Sommerhalder
Russischer Abschieds-Selfie der beiden Bären-Männer Charlie Russel und Reno Sommerhalder (Foto: Reno Sommerhalder)

Von Petropavlovsk aus reist Reno Sommerhalder direkt weiter nach Moskau. Dort hat er Anschluss nach Kanada, wo in den Rocky Mountains sein Menschenkind auf ihn wartet. Die Freude auf das Wiedersehen mit seiner Tochter Isha lindert die Wehmut, die der endgültige Abschied von seinen tierischen Adoptivkindern hinterlässt. Bei aller Wissenschaftlichkeit und Objektivität sind ihm Sky, Wilder, Buck, Sheena und Gina während des russischen Sommers ans Herz gewachsen. Die Bären werden jetzt wenigstens sechs Monate lang schlafen und mit etwas Glück im kommen- den Mai aus ihrer Höhle kriechen. Es wird noch eine Schneedecke über der Tundra liegen, aber an der Küste werden sie Futter finden: angespülte tote Seehunde und Wale. Und Pinienzapfen, die der Herbst übriggelassen hat. Reno ist zuversichtlich: einige von ihnen werden es schaffen. Wenn sie kei- nem Wilderer begegnen.

Im Juni des folgenden Jahres erhält Reno Nachricht von Charlie, der wie- der nach Kamchatka gereist ist. Offenbar haben ihre Adoptivkinder den Winter überlebt, wie Charlie anhand frischer Spuren rund um das Winterquartier herausgefunden hat.
Rund einen Monat später tauchen Sky und Buck bei der Hütte auf, um Rus- sell zu besuchen. Sie haben offenbar beschlossen, in dieser Gegend zu blei- ben, während ihre Stiefgeschwister wohl weitergezogen sind, um eigene Reviere zu erschliessen. Charlie hat neue Bärenwaisen zum Aussiedeln erhalten. Während des Sommers lassen sich Sky und Buck in unregelmäs- sigen Abständen bei der Hütte blicken, um Charlie und seine neuen Schützlinge auf ihren Spaziergängen zu begleiten.

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