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Die Augen des Waldes

 Text und Bilder von Jürg Sommerhalder


Die Kleider kleben mir am Leib, während sich unsere kleine Gruppe durch den dampfend warmen Dschungel kämpft. Seit etwa zwei Stunden folgen wir einem wortkargen, einheimischen Guide durchs Dickicht. Sein Blick bleibt stets aufmerksam auf das  geschlossenen Blätterdach über unseren Köpfen gerichtet. Jetzt gebietet er uns mit einer Handbewegung am Fusse eines mächtigen Urwaldriesen zu verweilen, während er alleine zwischen den Büschen verschwindet.

Diadem-Siffaka, Propithecus diadema, Madakaskar
Der stark gefährdete Diademsifaka (Propithecus diadema) zählt zu den grössten und farbenfrohsten Lemuren. (Foto: Jürg Sommerhalder)

Bislang haben wir nur ein gelegentlichen Rascheln im Grün des Regenwalddaches wahr genommen, es hätte aber genauso gut vom Wind oder einem grossen Vogel wie von einem Lemur stammen können. Auf letztere haben wir es nämlich abgesehen, namentlich den Indri wollen wir vor unsere Objektive bekommen.

Lemuren bilden eine Teilordnung der Feuchnasenaffen, die nur auf Madagaskar vorkommt. Der Name der Lemuren lässt sich von den römischen Totengeistern, den Lemures ableiten. Er weist auf die nächtliche Lebensweise vieler Arten hin, und auf die markanten, manchmal unheimlich wirkenden Augen dieser Primaten.

„Lemurs!“, raunt unser Guide ein wenig undifferenziert, als er nach einer Weile wieder auftaucht und uns mit einem Wink in eine bestimmte Richtung lenkt. Die Träger meines schweren Foto-Rucksacks schneiden mir in die Schultern als ich hinterher stapfe, während sich die übrigen Teilnehmer einreihen und wir unseren Marsch in schweigender Einerkolonne fortsetzen.

Der Indir, Indi Indi, Madagaskar
Der Indri (Indri indri) ist der grösste alle Lemuren. Singende Indris sind über zwei Kilometer weit zu hören. (Foto: Jürg Sommerhalder)

Plötzlich erstarrt unser Guide mitten im Schritt und hebt die Hand. Wir bleiben ebenfalls stehen, starren angestrengt in die Baumwipfeln. Nichts rührt sich. „Sit down, they are coming down!“ befiehlt er flüsternd und ich lasse mich zu Boden sinken. Nach einigen Minuten bemerke ich eine vorsichtige Bewegung an einem Baumstamm über mir, gerade dort, wo die Stämme ins grüne Blätterdach übergehen. Das Tier ist alleine und keinesfalls ein Indri, dazu ist es zu klein, ausserdem sehe ich einen langen, flauschigen Schwanz baumeln, über den Indris nicht verfügen. Ich erkenne ihn als Diadem-Sifaka (Propithecus diadema), den farbenprächtigsten aller Lemuren. Offenbar stellt er nur die Vorhut, den über ihm werden an verschiedenen Stämmen weitere Gestalten sichtbar. Letztlich ist unsere neunköpfige, ruhig am Boden sitzende Gruppe umgeben von einer etwa gleich grossen Gruppe Diadem-Sifakas. Die Tiere müssen uns bemerken, würdigen uns jedoch keines Blickes, sondern kümmern sich unbeschwert um ihre Futteraufnahme und um einander. Obschon die Primaten ganz bis zu uns herunter kommen, berührt kein einziger von ihnen den Boden. Vielmehr bewegen sie sich fort, indem sie mittels eleganter Sprünge über mehrere Meter hinweg mühelos von Baum zu Baum springen. Etwa eine halbe Stunde lang beobachten wir die Tiere aus nächster Nähe, als unter ihnen plötzliche Hektik aufkommt. Aufgeregt schnatternd entfernen sie sich, rasch von Baum zu Baum springend, und sind innert Sekunden verschwunden.

Larvensifaka, Propithecus verreauxi, Kirindi, Madagaskar
Der elegante Larvensifaka (Propithecus verreauxi) lebt im trockenen Südwesten Madagaskars. (Foto: Jürg Sommerhalder)

Unser Guide starrt wieder ins Blätterdach und sagt: „Indris!“ Er lauscht einen Moment lang, dann winkt er uns weiter. Es dauert nicht lange, bis wir aus den Baumkronen heftiges Rascheln vernehmen, dann plötzlich erklingt der Gesang eines Indris, in den ein weiterer einfällt. Das durchdringende, laute Heulen dient den Lemuren als Verständigung mit anderen Familienverbänden, und macht es uns leichter, sie zu finden. Letztlich treffen wir sie auf einer Waldlichtung an. Hier stehen die Bäume weniger eng und gewähren einen besseren Ausblick in die Baumkronen. Auf einem dicken kahlen Ast etwa 10 Meter über mir hockt ein stattlicher Indri, reckt sein Gesicht in den Himmel und lässt sein lautes, schrilles Heulen hören. Ein zweiter fällt ein, dann ein dritter, sie singen in verschiedenen Tonlagen, sodass ein ganz eindringlicher, unverwechselbarer Klang entsteht.

Der Indri (Indri indri) ist der grösste aller Lemuren. Er erreicht annähernd einen Meter Körperlänge und als einziger der rund 100 Lemuren-Arten verfügt er lediglich über einen Stummelschwanz. Indris leben in kleinen Familienverbänden in den Bäumen, von denen sie nur gelegentlich herunterklettern.

Das flauschige Fell des Indri ist schwarz-weiss, die Übergängen in verschiedenen Grautöne gehalten. Aus seinem ganz schwarzen Gesicht leuchten intensive hellgelbe Augen, seine Mundschleimhäute sind tiefrot und beim Singen gut zu sehen.

Roter Maki, Eulemur rufus, Madagaskar
Der Rote Maki (Eulemur rufus) wurde erst im Jahr 2008 vom Rotstirn-Maki (Eulemur rufifrons) abgespalten und als eigenständige Art anerkannt. (Foto: Jürg Sommerhalder)

Wir begegnen auf unserer Reise vielen weiteren Lemuren. So etwa in den Trockenwäldern an der Westküste die eleganten, schneeweissen Larven-Sifakas (Propithecus verreauxi), dem Roten Maki (Eulemur rufus) und dem nachtaktiven Grauen Maus-Maki (Microcebus murinus), und auf Nosy Mangabe, einer zu Madagaskar gehörenden Insel, dem Weisskopf-Lemur (Eulemur albifrons) sowie den Schwarzweissen Vari (Varecia variegata).

Grauer Mausmaki, Microcebus murinus, Madagaskar
Dieser nachtaktive Graue Mausmaki (Microcebus murinus) verschlief den Tag in einem hohlen Pfosten unserer Lodge. (Foto: Jürg Sommerhalder)

In einem Wäldchen nahe einer kleinen Stadt an der Nordostküste der Insel, nehmen wir eine Stunde nach Einbruch der Nacht einen Nightwalk unter die Füsse. Wir entdecken Tomatenfrösche und sehen Maus-Makis als vage Umrisse hoch oben durchs Geäst sausen. Gelegentlich halten sie inne, um zu uns hinunter zu spähen, dann reflektieren ihre riesigen Augen grell-orange den Schein unserer Taschenlampen. Plötzlich beginnt unser kleiner, dicklicher Guide bemerkenswert behände herum zu hüpfen. Aufgeregt zeigt er auf einen Baumam Waldrand. Gebückt huscht er darauf zu, mich am Ärmel mit sich ziehend. „Aye-Aye!“, japst er, und als ich mit dem Blick seinem ausgestreckten Zeigefinger folge blicke ich in das hässlichste Gesicht der Welt.

Das Aye-Aye oder Fingertier (Daubentonia madagascariensis) ist nicht auf den ersten Blick als Lemur zu erkennen. Es hat schon gar nichts von der Anmut seiner Verwandten. Vielmehr ist es eine struppige Erscheinung mit untersetztem Körper und grossem Kopf, den ein schnabelartiger Mund mit vorstehenden Schneidezähnen, grosse, nackte, abstehende Ohren, und leuchtend gelben Augen zieren. Zudem fallen mir sofort die langen, knochigen Finger auf, die dem Tier seinen deutschen Namen eingebracht haben.

Fingertier, Aye-Aye, Daubentonia madagascariensis, Maroantsetra, Madagaskar
Das schrecklich-schöne Aye-Aye (Daubentonia madagascariensis) wurde zuerst für ein Nagetier gehalten. (Foto: Jürg Sommerhalder)

Das Fingertier verlässt erst nachts sein Schlafnest. Als Allesfresser sucht es zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen nach Früchten und allerlei Vegetarischem. Und um seinen Eiweissbedarf zu decken setzt es seinen stark verlängerten dritten Finger ein: Es klopft damit Baumstämme ab und erkennt am Geräusch durch Käferlarven verursachte Hohlräume in deren Innerem. Mittels der kräftigen Schneidezähne beisst der Lemur die Baumrinde auf und angelt anschliessend die eiweissreichen Larven mit Hilfe des langen Spezial-Fingers aus den freigelegten Frasskanälen.

Unser Aye-Aye fühlt sich gestresst. Seine sensiblen Augen sind auf Restlichtvertstärkung in dunkler Nacht eingerichtet und mögen den hellen Schein unserer Taschenlampen nicht. Wir blenden ab und beobachten im Halbdunkel, wie das aussergewöhnliche, seltene Tier langsam und rührend ungeschickt im Geäst verschwindet.

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