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Adoption auf Russisch: Russischer Sommer (Teil 2)

Vorbemerkung: Dieser Beitrag wurde ursprünglich für die Pilot-Ausgabe einer neuen Schweizer Natur-Zeitschrift produziert, die den Weg in den Periodika-Markt am Ende doch nicht geschafft hat. Später diente sie als Ausgansgpunkt für das Buch “Ungezähmt”, welches vom Verlag Wörterseh und der unvergleichlichen Gabriella Baumann–von Arx verlegt wurde – und dessen Kauf und Lektüre wir allerwärmstens empfehlen!

Haben Sie Teil 1 dieser Geschichte schon gelesen?

Text: Jürg Sommerhalder
Fotos: Reno Sommerhalder & Charlie Russel

Als der Schweizer Mitte Juli die Verantwortung für die Jungbären über- nimmt, wiegen sie etwa sieben Kilogramm. Nur eine Vervierfachung die- ses Gewichts bis zum Beginn des kommenden Winters in knapp vier Mo- naten wird den Welpen eine reelle Chance einräumen, diesen zu überle- ben. Dazu benötigen sie Nahrung, die den hochprozentigen Fettanteil der fehlenden Muttermilch kompensiert. Gleichzeitig muss das Futter bezahl- bar sein, denn einerseits verfügt das Projekt über ein sehr beschränktes Budget, andererseits vertilgen junge Braunbären unglaubliche Kalorien- mengen.
Ein Brei aus Haferflocken, gerösteten Sonnenblumenkernen, Rapsöl und Zucker erweist sich als allen Ansprüchen genügend – auch denjenigen des Bärengaumens, denn die Jungen akzeptieren diesen energiereichen Muttermilchersatz gierig quieckend und laut schmatzend.

Nach dem täglichen Frühstücksbrei wird es Zeit für den ersten Spazier- gang. Während Russel meist in der Hütte bleibt und am Computer arbeitet, unternimmt Reno mit den Bären Wanderungen. Dabei geht es vorerst darum, dass die Tiere ihren Lebensraum kennenlernen. Die Welpen fassen rasch Vertrauen in ihre neue Ersatzmutter und weichen dem Menschenmann in unbekanntem Gelände keinen Schritt vom Fuss.

Charly Russel und Wilder, Foto: Reno Sommerhalder
Charlie Russel versucht, den gelegentlich etwas übermütigen Wilder zu belehren (Foto: Reno Sommerhalder)

Auf ihren Wanderungen lernt dieser seine Bären besser kennen. Die Jungen stammen aus zwei verschiedenen Würfen: Sheena und Gina bilden die eine Geschwistergruppe, Buck, Wilder und Sky die andere. Nicht anders als der Mensch ist jeder Bär ein Indivi- duum mit Eigenheiten. So etwa zeigt sich rasch, dass die dominanten Schwestern Sheena und Gina die Klügsten und Aufgewecktesten des Quintetts sind und die beiden Männ-chen grundsätzlich zurückhaltender als die Weibchen. Buck scheint das schwächste Tier zu sein, irgendein schmerzhaftes Problem mit der Hüfte behindert ihn zusätzlich. Auf den Wanderungen hängt er stets zurück. Oft rutscht er ängstlich rückwärts auf dem Hintern Abhänge hinunter, welche die anderen in forschem Vorwärtsgang nehmen. Sky hingegen erweist sich als sehr soziales Tier. Immer wartet sie auf den zurückhängenden Bruder, kehrt sogar oftmals um und holt die Gruppe gemeinsam mit ihm wieder ein. Ganz allgemein scheint sie stets darum bemüht, den Trupp zusammenzuhalten, die beiden Männer eingeschlossen. Reno und Sky scheinen eine besondere Verbindung zu haben. Auch auf ihn wartet die junge Bärin, wenn er sich zurückfallen lässt. Und sie liebt es, mit ihm ihre Kräfte zu messen: Dem spielerischen Kampf um den erhöhten Platz auf einem grossen Stein etwa, von dem sie sich gegenseitig herunter zu stossen versuchen, widmet sie sich mit Inbrunst.

Reno Sommerhalder, fünf Bärenwelpen, Kamchatka, Foto: Charlie Russel
Tägliche Wanderungen mit Ersatzmama Reno Sommerhalder machen die Bärenwelpen mit ihrem Lebensraum vertraut (Foto: Charlie Russel)

Grundsätzlich versuchen die Männer,  den Körperkontakt mit den Jungbären auf eine Minimum zu beschränken. Sie sollen sich nicht zu sehr an den Menschen gewöhnen, und später als wild lebende Bären den notwenigen Respekt vor ihm haben.
Die absolut grösste Gefahr für jeden Jungbären geht von arteigenen Männchen aus. Dieses Verhalten ist für Ursus arctos normal und hat vermutlich den einzigen Hintergrund, mit möglichst wenig Aufwand an möglichst hochwertige Nahrung zu gelangen. Um die Gefahr des Kontakts mit Wildbären zu vermindern, begrenzen die Männer den „home range“ ihrer Jungbären auf futter- und daher bärenarme Gebiete fernab von besonders guten und allgemein bekannten Futterplätzen, an welchen sich schon mal ein Dutzend alter Riesen auf engstem Raume tummeln können. Sobald sie sich in bekanntem Gelände befinden, werden die Bärenwelpen mutiger und gewähren sich selber längere Leine. Mit fortschreitendem Sommer drehen sie den Spiess gelegentlich sogar um und geben selber den Weg vor. Abends kehrt die Gruppe stets zurück zur Hütte, wo die Bären die abendliche Portion ihres Muttermilch- Ersatzes erhalten und die Nacht im Schutz des Elektrozauns verbingen.

Auf diesen Wanderungen machen die Jungbären Bekanntschaft mit Gräsern, Kräutern, Wurzeln, Beeren, Pinien- zapfen. Reno erkennt rasch, dass sie entgegen seiner bisherigen Kenntnisse keine Bärenmutter benötigen, um Ge- niessbares von Ungeniessbarem zu unterscheiden. Offenbar sind sie äus- serst gelehrig, oftmals scheint ein einziges Erlebnis bereits ausgeprägten Lerneffekt zu erzielen. Besonders die zuckerhaltigen Beeren des Geissblatts sowie Krähen- und Heidelbeeren, die überall in der Tundra wachsen, bieten den ganzen Sommer hindurch eine wichtige Energiequelle für Braunbären.
Wenn die Flüsse mit laichwandernden Pazifischen Lachsen regelrecht anschwellen, müssen die jungen Bären das Fischen erlernen. Diese äusserst hochwertige Protein- und Fettquelle steht in den Sommermonaten weit oben auf dem Speisezettel wilder Braunbären in Kamchatka. Sie fressen sie in jedem Stadium: fangen sie zuerst lebendig, sammeln später die am Ufer angespülten Toten ein und schnorcheln im frühen Herbst sogar nach den verfaulenden Leichen, die auf den Gewässergrund gesunken sind.

Braunbär, Ursus arctos, Kachatka, Lachs Foto: Reno Sommerhalder
Der Pazifische Lachs ist währndd seinern laichwanderung eine der wichtigsten Nahrungsquellen für die Braunbären Kamchatkas – umso mehr wenn die Bäuche der Weibchen prall mit Laich gefüllt sind (Foto: Reno Sommerhalder)

Um sie mit dieser neuen Nahrungsquelle vertraut zu machen, werfen die Männer ihren Schützlingen zuerst tote Fische an Land vor. Sie befestigen verendete Lachse an Schnüren und ziehen sie über eine Weise rennennd hinter sich her. Sie rufen dabei immer wieder „Fisch! Fisch!“, um einen akustischen Bezug herzustellen. Die Kleinen sind begeistert von diesen neuen Spiel und tollen wild hinter den Männern her. Erst nachdem sie eine halbe Stunde lang mit den so “erbeuteten” Fischen gespielt haben, merkt Sheena als Erste, dass sie etwas Fressbares im Maul hat. Dann schlägt die Begeisterung der Bären unvermittelt in Gier um und die Fische sind im Nu verputzt.

Schon am nächsten Tag stellen die Männer fest, dass sie ihre Strategie ändern müssen: Als sie die betreffende Wiese passieren, sind die Jungbären da nicht mehr wegzukriegen.  Lange suchen sie hektisch die Wiese nach dem neuen Futter ab. Die nächsten toten Lachse werden ihnen deshalb am Seeufer im seichten Wasser gereicht, und die folgenden schleudern die Männer einige Meter weit hinaus in den See, werfen Steine zu ihnen hin und rufen immer wieder „Fisch! Fisch!“. Es dauerte nicht lange, bis ihre gelehrigen Schüler begreifen und während sie hinauswaten zu den toten Fischen entdecken sie im Wasser die Lebendigen. Damit ist die Aufgabe der beiden Männer bereits beendet, denn nun beginnen uralte Instinkte zu greifen. Die Welpen haben das Lachsfischen innerhalb eines einzigen Tages begriffen. Zwar müssen sie ihr Geschick jetzt noch trainieren, aber dabei kann ihnen niemand helfen. Reno hat immer geglaubt, dass junge Bären das Lachsfischen von ihrer Mutter erlernen. Heute glaubt er eher, dass seine Bärenkinder auch dies ohne sein Zutun gelernt hätten – spätestens wenn sie beim Durchwaten eines Flüsschens zufällig auf einen Lachs gestossen wären. Einmal mehr staunt er über die augenscheinliche Klugheit der Braunbären: Zwar könnte ihre rasche Auffassungsgabe beim Lachsfi- schen durch angeborenes Wissen relativiert werden, nicht aber, dass die Bären sich mit dem Zuruf „Fisch! Fisch!“ bereits am nächsten Tag bis nach Hause ins Gehege locken lassen. Die Tiere  haben den Kontext zwischen der neuen Energiequelle und dem Laut innerhalb weniger Stunden herge- stellt.

Die anfänglich kurzen Spaziergänge werden mit zunehmendem Vertrauen der Bären in ihre Umgebung länger und wachsen sich im Laufe des Sommers zu veritablen Tagesmärschen aus. Die Entwicklung der Welpen schreitet rasant foran. In nur anderthalb Monaten verdoppeln sie ihr Gewicht, und innerhalb eines weiteren erneut. Mit 30 Kilogramm haben sie bereits anfangs Oktober das notwendige Minimalgewicht für den ersten Winterschlaf überschritten. Aus den katzengrossen Wollknäueln sind richtige Bären mit der Schulterhöhe eines grossen Deutschen Schäferhun- des geworden.

Reno Sommerhalder und Sky, Foto: Charly Russel
Sky wiegt bereits deutlich über 30 Kilogramm. Ihr Übermut kann für die Männer zunehmend gefährlich werden (Foto: Charlie Russel)

Im September reifen die Pinienzapfen. Aufgrund des sehr hohen Fett- gehalts ihrer Kerne sind sie für die Bären die herbstliche Hauptnahrung. Jeweils zur Mittagszeit macht der Trupp Rast. Die satten Bärenkinder und der Menschenmann rollen sich windgeschützt hinter einem Fels oder in einer Kuhle am Boden zusammen und halten ein Schläfchen. Dann wird weitergefressen. Die Jungbären wiegen jetzt 40 Kilogramm und sind Gleichaltrigen in jeder Beziehung weit voraus.
Die Männer merken, dass sich ihre Schützlinge immer widerstrebender mit auf den Heimweg machen. Während des Sommers sind sie auf ihren Wanderungen nur ganz selten anderen Bären begegnet. Nie ist es zu Ag- gressionen gekommen, und ein grosses Männchen, welches eine Zeitlang aus Distanz Interesse an den Jungen bekundet hat, ist offenbar zum Schluss gekommen, dass dieses Futter zu gut geschützt ist und hat sich verzogen.

Hier gehts zum 3. Teil dieser Geschichte

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