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Von Seiltänzern, Muskelprotzen und Weitspringern – Superlative aus dem Reich der Spinnen

von Jürg Sommerhalder

Aus Sicht der Evolution befinden sich die Spinnentiere derzeit in voller Blüte: Sie sind eine der erfolgreichsten Tiergruppen der Erde. Dies zeigt sich nicht nur an der Zahl beschriebener Arten – mit über 70‘000 zählen sie zu den Top 3 des Planeten – sondern auch daran, dass sie sich praktisch jeden Winkel der Erde als Lebensraum erschliessen konnten.

Neben Skorpionen, Milben, Weberknechten und etlichen anderen Verwandtschaften,  stellen die Echten Spinnen mit mehr als 40‘000 Arten die grösste Gruppe innerhalb der Spinnentiere; dabei geht man davon aus, dass erst ein Viertel aller existierenden Arten beschrieben wurde. Seit über 400 Millionen Jahren bevölkern sie unseren Planeten, und in allen Klimazonen sind sie anzutreffen, sogar für Grönland wurden rund 60 Arten beschrieben.

Eine dermassen erfolgreiche Tiergruppe kann zwangsläufig mit spektakulären Leistungen aufwarten.

Stärker als Stahl
Eine der bemerkenswertesten Errungenschaften der Spinnen ist ihre Fähigkeit, Seide zu weben. Und zwar Seide mit Eigenschaften, die ihresgleichen suchen: Im Vergleich zu Stahl weist Spinnenseide ein fünf Mal höheres Stärke-/Dichteverhältnis auf. Sie vermag fünf Mal mehr Gewicht zu tragen als ein Stahlfaden mit identischer Masse und ist dabei dreimal dehnbarer.

Ins Netz gegangen
Diese Eigenschaften der Spinnseide zahlen sich für ihre Herstellerinnen aus. Die in den Tropen weit verbreiteten Arten der Gattung Nephila produzieren die grössten Radnetze aller Spinnen. Ihre Gewebe haben bis zu zwei Meter Durchmesser und sind so stark, dass sich in ihren Maschen gelegentlich sogar kleinere Wirbeltiere wie Vögel und Frösche verfangen. Einen Nephila-Eikokon von blosser Hand zu zerreissen, ist schlicht unmöglich. Zudem sollen Einwohner des indo-pazifischen Raums die Netze dieser Spinnen zum Fischfang verwenden: Sie lösen die widerstandsfähigen Gewebe von den Bäumen und legen sie auf die Wasseroberfläche, wo Kleinfische nach den vermeintlichen Häppchen schnapped sich mit ihren Zähnchen in den Seidenfäden verheddern.

Heilsames Gewebe
Spinnseide ist zudem mit antibakteriellen Eigenschaften ausgestattet, die sie vor Zersetzung durch Mikroorganismen schützt. Die Wirkung ist so stark, dass Bauern in den südlichen Karpaten die Wohnröhre der europäischen Vogelspinnenverwandten Atypus aufschneiden, um mit deren Innenseite Wunden zu bedecken. Die Eigenschaften der Spinnenseide sollen die Wundheilung unterstützen.

Voll aquatisch
Etliche Spinnenarten haben den Lebensraum Waser erschlossen. Sie leben an Gewässerufern und jagen sogar auf und unter dem Wasser. Am weitesten geht dabei unsere einheimische Wasserspinne Argyroneta aquatica. Sie hat ihren gesamten Lebenszyklus unter die Wasseroberfläche verlagert. Hier kommt eine weitere Eigenschaften der Spinnseide zu tragen: Sie ist komplett wasserresistent. Die Wasserspinne webt unter Wasser ein Netz, füllt es mit Luftblasen, und schafft sich so eine Wohn-Luftglocke. Ihr gesamter Lebenszyklus von der Jagd über Partnersuche, Fortpflanzung und Kinderaufzucht  findet unter Wasser statt. Die Wasserspinne sucht die Wasseroberfläche nur noch auf, um mittels ihrer Hinterleibsbehaarung eine Blase Frischluft einzufangen, bevor sie wieder abtaucht.

Mit Planung und Sprunggewalt
Obschon alle Echten Spinnen Seide zu produzieren vermögen wird sie nicht von allen zum Beutefang verwendet. Einige Gruppen haben sich alternative Strategien angeeignet, so etwa die Springspinnen. Sie jagen aktiv, schleichen sich an ihre Opfer heran und erbeuten sie im Sprung. Dabei hilft ihnen einerseits ihr im Gegensatz zu anderen Spinnen hervorragend ausgebildeten Gesichtssinn. Die beiden riesigen Frontaugen erlauben diesen Tiere räumliches Formsehen in breitem Lichtspektrum. Im Zusammenspiel von Gesichtssinn und hochsensiblen Chemo-Rezeptoren, die Geruchs- und Geschmacksreize über mehrere Dezimeter hinweg wahrzunehmen vermögen, können diese Tiere  springend, hüpfend und huschend komplexe Ausweich- und Anschleichmanöver ausführen.

Reaktionsschnell
Die Sprungauslösung erfolgt durch eine Kontraktion des Vorderleibes. Das Blut der Springspinne wird dadurch in die Beine gepresst und streckt sie so hydraulisch. Dieser Prozess dauert gerademal 10- 15 Millisekunden. Bei Vogelspinnen wurden schon Reaktionszeiten von drei Tausendstelsekunden nachgewiesen. Das ist, was die Reaktionsfähigkeit angeht, weltrekordverdächtig.

Methusalemisch
Vogelspinnen übrigens können für weitere Superlative herhalten: Sie haben naturgeschichtlich ein vorbiblisches Alter und lebten bereits auf der Erde, als sie noch von den Dinosauriern beherrscht wurde. Die Weibchen einiger grossen heutiger Arten können zudem 25 und mehr Jahre alt werden, was für Gliedertiere einen Topwert darstellt.
Vogelspinnen zählen zu den grössten und schwersten landlebenden Gliedertieren. Mit Beinspannweiten bis zu 30 Zentimetern und zentimeterlangen, kräftigen Giftzähnen vermögen Vogelspinnen mittels purer Muskelkraft grosse Beute zu machen. Sie sind Lauerjäger und können ohne Zuhilfenahme von Fangvorrichtungen auch Vögel, Kleinechsen und -schlangen  oder Mäuse überwältigen.

Achtung giftig!
Die wenigstens Spinnen können dem Menschen gefährlich werden. Doch finden sich unter ihnen ein paar ganz schön gefährliche Zeitgenossen. Je nach Definition der Kriterien, die Top-10-Listen der giftigsten Tiere der Erde zugrunde gelegt werden, taucht entweder der Name Trichternetzspinne oder Schwarze Witwe auf. Erstere ist ein grosse, aggressive Vogelspinnenverwandte aus Australien, deren Biss  ohne Serumbehandlung tatsächlich zu einem qualvollen Tod führen kann. Die Witwen hingegen sind zwar überhaupt nicht aggressiv und geben so wenig Gift ab, dass nur selten ein gebissener Mensch Schaden nimmt. Unter allen Spinnengiften enthält ihres aber eines der potentesten Toxine überhaupt.

Jagd mit Kescher und Bola
Nicht jede Spinne lauert passiv in ihrem Netz sitzend auf Beute, die sich in der Seide verheddert. Die Kescherspinne Deinopis etwa hat sich darauf verlegt, ein winziges Netzlein zu spinnen, und dieses zwischen den Vorderbeinen haltend als Schmetterlingsnetz zu verwenden. So keschert sie vorbeifliegende Beute aktiv aus der Luft.
Die komplizierteste und verblüffendste Fangtechnik unter allen Spinnen zeigen die Bola-Spinnen. Sie haben ihr Spinnennetz auf einen einzelnen, nur wenige Zentimeter langen  Faden reduziert, an dessen Ende ein Leimtropfen klebt. Im Inneren dieses Leimtropfens befinden sich Duftstoffe, die Sexuallockstoffe bestimmter Insekten imitieren. Fällt ein liebeswilliges Insekt auf den Trick herein und nähert sich der Spinne, schleudert sie den Faden mit ihren Vorderbeinen so nach dem Opfer, dass das Beutetier am Leimtropfen kleben bleibt und zur Spinnenmahlzeit gerät.

Zum Schluss
Dank ihrer perfekten, in 400 Millionen Jahren entwickelten Jagd- und Überlebensstrategien steht ausser Zweifel, dass die Existenz der Spinnen das Leben auf dem Planeten Erde nachhaltig beeinflusst. Je nach geografischer Lage bevölkern einige Hundert oder Tausend Spinnentiere einen einzigen Quadratmeter Waldboden. Es liegt auf der Hand, wieviel Nahrung solche Legionen hungriger Räuber verzehren. Man hat berechnet, dass die weltweit jährlich von Spinnen erbeutete Masse an Insekten das Gesamtgewicht der Menschheit übertrifft.

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