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Ausgestorben: Weder Murmeltier noch Nashorn

Text: Jürg Sommerhalder
Foto: Momotarou2012/Wikipedia

Als kleinster gehörnter Säuger, der bisher die Erde bevölkerte, gilt ein seltsames Wesen, das auf den ersten Blick für eine Kreuzung zwischen Murmeltier und Rhinozeros gehalten werden könnte. Während dieses Tier keinen deutschen Namen besitzt, wird es im englischen Sprachraum als  ‚horned gopher’ bezeichnet („Gehörntes Erdhörnchen“). Und tatsächlich handelte es sich bei Ceratogaulus um einen Vertreter der Hörnchenverwandten (Sciuromorpha), also um ein Nagetier.

Aufgrund der archäologischen Funde wurden für die prähistorische Nagetier-Gattung  Ceratogaulus bisher vier verschiedenen Arten beschriebenen, die allesamt gehörnt waren und etwa gleich gross wurden. Die vegetarischen Nager erreichten etwa 30 Zentimeter Körperlänge und ähnelten den heutigen Murmeltieren. Wie diese pflegten sie wohl eine grabende Lebensweise. Dies legen typische Merkmale nahe, so etwa der gedrungene Körperbau, ein kurzer, stumpfer Schädel auf einem ebenfalls kurzen, kräftigen Hals, stark ausgebildete Nackenmuskeln sowie kräftige Vorderpfoten mit starken Krallen an den nach aussen gerichteten Füssen.

Einzig die seltsame Hornbildung dieser urtümlichen Nagetiere hebt sie deutlich von Tieren mit ähnlicher Lebensweise ab und wirft Fragen auf. Das aus dem Nasenbein entspringende Doppelhorn wurde im Verhältnis zur Körpergrösse recht lang und erscheint aufgrund seiner Ausrichtung nach oben bei der Fortbewegung in Erdgängen eher hinderlich. Dass sich Hörner für Tiere mit grabender Lebensweise nicht unbedingt aufdrängen zeigt sich auch im Umstand, dass unsere gehörnten Murmeltiere – nebst einem Vorfahr der Gürteltiere – die einzigen grabenden Säuger mit Hörnern waren, welche die Evolution bislang hervorgebracht hat.

Doch auch die Funktion des Nager-Doppelhorns lässt die Paläontologen rätseln, denn die meisten der bisher aufgestellten Theorien gelten unterdessen als unwahrscheinlich: Zwar zeigen die prähistorischen Skelett-Überreste klare Anzeichen eines grabend lebenden Tiers, das zum Graben seinen Kopf einsetzte. Solche Tiere graben unter Zuhilfenahme ihrer Schnauze und indem sie den Kopf ruckartig nach hinten werfen, wobei die verstärkte Nase wie ein Spaten eingesetzt wird. Dabei könnte ein knöcherner Nasenfortsatz durchaus von Vorteil sein. Aufgrund seiner Position und Ausrichtung nach oben und hinten (anstatt nach vorne) erscheint derjenige von Ceratogaulus als Grabwerkzeug aber gänzlich ungeeignet.

Weil die fossilen Schädel dieser prähistorischen Tiere zudem recht kleine Augenhöhlen aufweisen, unterstellt man den urtümlichen Nagern ein ziemlich schlechtes Sehvermögen. Damit verliert auch die Theorie der Arterkennung durch das markante Doppelhorn an Bedeutung. Ebenso auszuschliessen ist der Einsatz des Horns im Paarungskampf der Männchen, dies aus dem einleuchtenden Grund, dass auch die Weibchen gehörnt waren.

So bleibt am Ende nur eine Theorie zum wahrscheinlichsten Verwendungszweck des Ceratogaulus–Doppelhorns übrig: Selbstverteidigung. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Räuber, der ein solches Nagetier auszugraben versuchte, durch einen schmerzhaften Stoss des Doppelhorns in Gesicht oder Rachen sich von seinem Vorhaben abhalten liess.

Es darf vermutet werden, dass sich die kleingewachsene Ceratogaulus mit ihrer eher dürftigen Bewaffnung nicht nachhaltig gegen die erfolgreichen Räuber ihrer Zeit behaupten konnten. Die Gründe für das Verschwinden der sonderbaren Nager sind aber unklar. Zum besagten Zeitpunkt fand keines der bekannten grossen Massenstarben statt. Und nicht immer waren Umweltkatastrophen, Räuber und Nahrungsknappheit die Gründe für das Verschwinden von Arten vom Angesicht der Erde. Evolution funktioniert durch die Anpassung der Organismen an sich ändernde Umweltbedingungen. Dass dabei Arten verloren gehen, ist ein genauso natürlicher Prozess wie die Entstehung neuer.

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