Athleten und Giftmischer – Superleistungen der Insekten
Text: Frank Wieland & Jürg Sommerhalder
Fotos: Jürg Sommerhalder
Die Insekten sind die grösste Tiergruppe auf unserem Planeten. Mehr als die Hälfte aller Arten zählen zu den Sechsbeinern. Von den tiefsten Höhlen bis auf die höchsten Berge, von der heißesten Wüste bis in die Antarktis – überall sind sie zu finden. Im Lauf ihrer 400 Millionen Jahre andauernden Evolution haben sie eine Vielzahl spannender Spezial-Anpassungen entwickelt, die ihr Überleben sichert. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich viele der kleinen Krabbler als wahre Wunderwesen mit faszinierenden Fähigkeiten.
Riesenkäfer und lebende Äste
Bei der Frage nach dem größten Insekt stellt sich die Frage: Gewicht oder Länge? Das längste Insekt ist die Stabschrecke Phobaeticus chani aus Borneo, die erst 2008 wissenschaftlich beschrieben wurde. Ihr Körper erinnert an einen dünnen Zweig und misst über 35 Zentimeter, mit ausgestreckten Beinen erreicht das Tier fast 60 cm Gesamtlänge.
Gewichtsmäßig liegt hingegen der Goliathkäfer ganz vorn. Mit bis zu 110 g Lebendgewicht bei einer Körperlänge von etwa 11 Zentimetern wiegt er so viel wie eine Tafel Schokolade.
Springer…
In nahezu jeder Fortbewegungsweise spielen die Insekten im Verhältnis zur Körpergröße ganz vorne mit. Flöhe sind Meister des Hoch- und Weitsprungs. Das 200-fache ihrer Körperlänge überwinden sie mit einem einzigen Sprung. Ein erwachsener Mann müsste mit einem Satz 360 Meter schaffen, um es dem Floh gleichzutun. Dabei helfen den winzigen Plagegeistern spezielle Sprungbeine. Auch einige Springschwanz-Arten können 10 Zentimeter weit springen – ganz schön beachtlich bei einer Körperlänge von nur wenigen Millimetern! Ein spezielles Organ, die sogenannte Sprunggabel, verhilft ihnen zu dieser Superleistung.
…und Renner
Auch beim Laufen macht den Insekten so schnell niemand etwas vor. Der Husein Bolt unter den Insekten ist der australische Sandlaufkäfer Cicindela hudsoni. Er erreicht ein Stundenmittel von neun Kilometern, er könnte also mit einem joggenden Menschen mithalten. Berücksichtigt man die Körpergröße des Käfers von 2 cm, so legt der Käfer in einer Sekunde das 125-fache seiner Körperlänge zurück. Übertragen auf unseren erwachsenen Mann entspräche dies einer hypothetischen Geschwindigkeit von unglaublichen 810 Kilometern pro Stunde!
Aber auch andere Insekten, so etwa die in Wüsten lebende Gottesanbeterin Eremiaphila oder die Amerikanische Schabe Periplaneta americana, erreichen enorme Laufgeschwindigkeiten.
Flugasse
Auch die besten Flieger des ganzen Tierreichs sind unter den Insekten zu finden. Einer der agilsten unter ihnen ist unsere Stubenfliege Musca domestica: Mit extrem engen Wendungen, Halbsaltos bei Kopfüberlandungen an der Decke und anderen Kunststücken entpuppt sie sich als echte Flugakrobatin. Der schnellste je gemessene Flieger des Insektenreichs ist die Ypsiloneule (Agrotis ipsilon). Der 15 Millimeter lange Nachtfalter erreicht Geschwindigkeiten von mehr als 100 Stundenkilometern. Damit legt er in einer Sekunde das 1850-fache seiner Körperlänge zurück. Ein im Verhältnis zur Körpergröße gleich schneller Mensch würde mit 12’000 Stundenkilometern durch die Atmosphäre schießen, schneller also als jeder Düsenjäger!
Den Langstreckenrekord unter den Gliedertieren hält eine indische Libellenart, die von Südindien aus via Malediven und Seychellen bis nach Ostafrika vordringt und wieder zurück in die Heimat fliegt, und damit eine Strecke von 18’000 Kilometern bewältigt.
Taucher
Viele Insekten leben im Wasser. In jedem Teich kann man Wasserwanzen, Wasserkäfer und verschiedene andere Wasserinsekten beim Tauchen bewundern. Doch auch eigentliche Landinsekten machen sich den Lebensraum Wasser zu Nutze. Einige Heuschreckenarten beispielsweise springen bei Bedrohung in Gewässer, wo sie sich minutenlang am Gewäsegrund an Steinen festklammern, bis die Gefahr vorüber ist. Auch gibt es mehrere Schaben-Arten, die in Wasserpflanzen an der Gewässeroberfläche ruhen und bei Gefahr unter der Wasseroberfläche verschwinden.
Bombardeure..
Das Verteidigungsarsenal der Insekten gegen Fressfeinde ist breit und ausgefeilt. Etliche haben gelernt, stinkende oder ätzende Substanzen zu erzeugen, um dem Feind den Appetit zu verderben. Unter den Käfern etwa gibt es explosive Zeitgenossen: Die Brachininae, eine Gruppe von Laufkäfern, können ein chemisches Zweikomponenten-Gemisch produzieren. Die beiden Chemikalien entstammen verschiedenen Drüsen und werden in eine spezielle säure- und hitzebeständige Explosionskammer des Hinterleibs eingeschossen. Das Aufeinandertreffen der beiden Komponenten erzeugt eine heftige Reaktion: Der chemische Cocktail erhitzt sich auf etwa 100°C und entweicht unter hohem Druck explosionsartig aus dem Hinterleib. Neben Verätzungen kann der Getroffene durch die Hitze schmerzhafte Verbrennungen erleiden. Passenderweise lautet der deutsche Name dieser wehrhaften Tiere Bombardierkäfer.
…und Giftmischer
Nebst diesen chemischen Keulen viele Insekten auch gefährliche Gifte, die sie selber produzieren oder aus pflanzlicher Nahrung aufzunehmen und für eigene Zwecke einsetzen. Die bekanntesten Giftmischer sind sicher die Hautflügler, zu denen Bienen, Wespen und Ameisen zählen. Eine in Südamerika vorkommende Ameisenart (Paraponera clavata) wird im Volksmund „Hormiga veinticuatro“ (Vierundzwanzigstunden-Ameise) genannt, weil ihr Stich heftige Schmerzen verursacht, die etwa 24 Stunden lang anhalten. Zu den Insekten, die pflanzliche Gifte mit der Nahrung aufnehmen und sie so zur eigenen Verteidigung verwenden, zählen beispielsweise viele Schmetterlingsraupen.
Kraftprotze
Legendär ist die Kraft der Ameisen. Ein einzelnes Individuum ist dazu in der Lage, das Fünfzigfache des eigenen Körpergewichts zu tragen. Wäre der Mensch ähnlich kräftig, könnte er einen vier Tonnen schweren Kleinbus über längere Distanzen auf dem Rücken tragen! Ihre enorme Kraft setzen die Ameisen ein, um Nahrung in ihre Bauten zu tragen und um temporäre Nester aus ihren eignen Körpern zu bilden, wie die in Südamerika und Afrika vorkommenden Wander- oder Treiberameisen. Auch Weberameisen der Gattung Oecophylla benötigen viel Kraft, wenn sie Blätter eines Busches oder Baumes zusammenziehen, um sie mit Hilfe selbstgesponnener Seide miteinander zu verweben.
Soziale Stärke
Besonders innerhalb der Hautflügler trifft man zahlreiche Arten an, welche die Vorzüge sozialen Zusammenlebens für sich entdeckt haben. So etwa Wespen, Bienen, Hornissen und Ameisen. Letztere bilden, wie die zu den Schaben gehörenden Termiten, grosse Völker, die mehrere Millionen Individuen umfassen können. Verschiedenen Aufgaben werden durch spezialisierte Volkskasten erledigt. Dadurch und bedingt durch ihre enorme Anzahl sind solche Insektenstaaten in der Lage, unvorstellbare Leistungen zu vollbringen: Die Bauten afrikanischer Termiten der Gattung Macrotermes können über 8 Meter hoch in den Himmel ragen. Bezogen auf die Körpergröße eines durchschnittlich grossen Menschen entspräche dies einem Hochhaus von einem Kilometer Höhe.
Ein Treiberameisenvolk in der afrikanischen Savanne vermag auf seinem Raubzug die Landschaft auf einer Breite von 20 Metern kilometerweit von allem tierischen Leben zu befreien.
Wir sind umgeben von Tieren, die im Vergleich zu uns Unvorstellbares leisten können. Unter ihnen gehören die Meister vieler Disziplinen zu den Insekten. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Ameise, die im Garten einen Kuchenkrümel davonträgt und die Fliege, die der Fliegenklatsche mit eleganter Leichtigkeit ausweicht, wahre Wunderwerke der Natur.