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Geschichten zu Fauna und Flora

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Pflanzennachahmer im Insektenreich

 Text: Dr. Frank Wieland
Fotos: Jürg Somemrhalder


Fressen oder gefressen werden, lautet das vorrangige Credo der Tierwelt. Pflanzenfresser werden von Räubern vertilgt, die Räuber ihrerseits von grösseren Raubtieren und so weiter. Nirgendwo wird uns dies deutlicher vorgelebt, als im Insektenreich. Als nahrhafte Beute haben die Sechsbeiner zahllose Feinde, die sich stets für einem saftigen Proteinhappen begeistern lassen. Um dies zu verhindern, haben die Insekten verschiedene Strategien entwickelt. Das Spektrum ist breit,  es führt von mechanischer und chemischer Bewaffnung, über visuelle, olfaktorische und akustische Abschreckung bis hin zu Schnelligkeit und schierer Grösse. Eine der erfolgreichsten Strategien hat sich im Lauf der Evolution immer wieder durchgesetzt: perfekte Tarnung. Wer für einen Stein, Vogelkot oder eine Pflanze gehalten wird, dessen Chancen steigen beträchtlich, den Augen eines Räubers zu entgehen. Besonders beeindruckend imitieren die Insekten verschiedene Pflanzenteile.

Grünes Laub…
Wandelnde Blätter sehen grünen Blättern täuschend ähnlich. Blattform, Blattadern, Frassspuren, bräunliche Trocknungsflecken – alles ist vorhanden wie bei einem echten Blatt. Auch die Gottesanbeterinnen und Heuschrecken haben sehr überzeugende Nachahmer lebenden Blattwerks hervorgebracht. Sie sind in der freien Natur dank ihrer fantastischen Tarnung kaum zu entdecken.

Das Grosse Wandelnde Blatt (Phyllium giganteum)
Das Grosse Wandelnde Blatt (Phyllium giganteum) au Südost-Asien ahmt grüne Laubblätter nach (Foto: Jürg Sommerhalder)

und totes Blattwerk
Es wird aber nicht nur grünes Laub imitiert, sondern auch braunes, verdorrtes. Viele Gottesanbeterinnen, zum Beispiel die in Asien heimische Deroplatys, sind Beispiele dafür, wie Insekten auch totes Laub nachzuahmen vermögen. Im Geäst oder auf dem Waldboden sind sie nur mit geübtem Auge zu erkennen.
Auch die Jungtiere vieler Gespenstschrecken sehen aus wie vertrocknetes Pflanzenmaterial, darunter die der asiatischen Heteropterix. Blattartige, kleine Lappen an Körper und Beinen und ihre dörrlaub-artige Färbung lösen ihre Körperform optisch auf, sodass sie mit ihrem Hintergrund verschmelzen. So verharren sie bei Tage an die Vegetation geklammert, um sich nach Einbruch der sicheren Dunkelheit wieder auf Nahrungssuche zu machen.
Auch einige Schmetterlinge sind hervorragend getarnt, wenn sie ihre bunten, auffällig gemusterten Flügeloberseiten verstecken, indem sie die Flügel auf dem Rücken zusammenklappen. So sind nur noch deren tarnfarbigen Unterseiten zu sehen und von einem trockenen Blatt kaum zu unterscheiden.

Pfauenspinner, Rothschildia spec.
Dieses Männchen eines mittelamerikanischen Pfauenspinners (Rothschildia) ist im Falllaub kaum erkennbar (Foto: Jürg Sommerhalder)

Der in Mitteleuropa heimische Blattlauslöwe Drepanepterix imitiert totes Laub. Seine dachartig angelegten Flügel gleichen einem vertrockneten und angenagten Blättchen. Will er sich tarnen, zieht er den Kopf zwischen die Flügel zurück und ist dann in der Vegetation nicht mehr zu entdecken.

Stöckchen und Grashalme
Auf die perfekte Nachahmung von Stöcken und Grasstängeln verlegen sich die Stabschrecken. Langgestreckt und mit langen, dünnen Beinen gleichen sie den dünnen Ästen der Gebüsche, in denen sie tagsüber reglos hängen. Wer aufmerksam sucht, kann diesen Insekten bereits im Mittelmeerraum begegnen.
Auch unter den Gottesanbeterinnen findet man Stocknachahmer. Einige von ihnen tragen sogar kleine lappige Auswüchse an Körper und Beinen, die dem Betrachter aus dem Ast spriessende Blattknospen vorgaukeln. Andere haben extrem gestreckte dünne Körper und Beine und sehen aus wie kräftige Grasstängel.
Selbst die ansonsten eher robust gebauten Heuschrecken haben dünne, stabförmige Arten hervorgebracht. Die Pferdekopfschrecken zum Beispiel sind für den Laien von Stabschrecken schwer zu unterscheiden, und durch ihre träge Bewegungsweise in der Vegetation vor Feinden zusätzlich geschützt.

Flechten und Moose
Die Insekten haben auch die Rinde von Bäumen als Lebensraum erobert. Tarnung als Ast oder Blatt macht hier weniger Sinn, aber die Nachahmung der Rinde selbst, und auf ihr wachsender Moose und Flechten schon. Einige Arten begnügen sich mit einer der überwucherten Rinde ähnelnden Färbung, sehen aber ansonsten aus wie ihre ungetarnten Verwandten. Spektakulärer ist die Tarnung, wenn Rindenbewohner sich auch in der Gestalt anpassen. Einige Arten der Gottesanbeterinnen leben in Moospolstern auf Bäumen. Sie tragen am ganzen Körper grüne, faserige Auswüchse, die sie optisch selbst zu Moos werden lassen.
Auch einige Stab- und Gespenstschrecken-Arten leben auf Rinde. Sie sind flach und breit gebaut und schmiegen sich eng an die Baumrinde an. Lappenartige Auswüchse und Haare an Beinen und Körperseiten lösen den Körperumriss dieser Tiere vor der Rinde auf und lassen sie verschwinden.
Unter den Heuschrecken sind einige in Südamerika beheimatete Arten perfekte Flechtennachahmer. Ihr Körper ist weiss mit schwarzen Flecken, die Beine und der Vorderkörper sind gewellt und gelappt. Dadurch wird ein auf Flechten sitzendes Tier nahezu unsichtbar.
Auch viele andere Insekten haben Moos- und Flechtennachahmer hervorgebracht. Käfer, Zikaden und Schmetterlinge sind nur einige Beispiele. Selbst in der mitteleuropäischen Fauna findet man Arten, die Flechtenfärbung zeigen. Viele Nachtschmetterlinge, beispielsweise die Lindeneule und der Birkenspanner, sind auf Baumrinde sitzend unsichtbar.

Langfühlerschrecke (Ensifera), Costa Rica
Gut getarnte Langfühlerschrecke (Ensifera) im mittelamerikanischen Regenwald (Foto: Jürg Sommerhalder)

Eine etwas andere Blume
Eine ganz andere Art der Pflanzennachahmung zeigt die Orchideen-Mantis. Die frisch geschlüpften Jungtiere dieser asiatischen Gottesanbeterin sind grellrot mit schwarzem Kopf und Beinen. Es wird angenommen, dass sie junge Raubwanzen imitieren. Mit der ersten Häutung aber findet eine radikale Umfärbung statt. Danach sind die Tiere durchscheinend weiss und gleichen nach jeder Häutung immer mehr weissen, mit zartem Rosahauch überzogenen Orchideenblüten. Das hat ihnen ihren deutschen Namen eingebracht. Gerundete Lappen an den Beinen erwecken den Eindruck von Orchideen-Blütenblättern. Mit der Verkleidung als Blüte erzielt die Gottesanbeterin doppelte Wirkung: Nicht nur entgeht sie selbst ihren Feinden, sondern sie bleibt zudem unsichtbar für die Beute, auf die sie lauert.
Oftmals unterstützen Insekten ihr perfekt getarntes Äusseres durch ihr Verhalten: Fühlen sie sich gestört, beginnen sie oft, sachte hin und her zu schaukeln, als ob sie vom Wind bewegt würden. Am weitesten sind bei der Pflanzennachahmung die Stab- und Gespenstschrecken gegangen. Auch ihre Eier gleichen Pflanzenteilen – sie sind nur durch Kenner von Pflanzensamen zu unterscheiden.

Tarnung als Pflanzenteil ist ein weit verbreitetes Phänomen. Es findet in den Tropen die grösste Vielfalt. Wer aber die Augen offen hält, begegnet ihm – vielleicht bei einem sonntäglichen Spaziergang durch die Natur – auch in unserer Breiten.

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