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Geschichten zu Fauna und Flora

AusgestorbenFEATURED

Der Lazarus-Effekt: Totgesagte leben länger

Text: Jürg Sommerhalder
Bild: Alberto Fernandez

Wird eine Tierart lange Zeit nicht mehr in freier Natur gesichtet, erklärt man sie früher oder später für ausgestorben. Doch oftmals ist auch eine grosse Zeitspanne der Unsichtbarkeit kein Garant, denn längst nicht alle angeblich ausgestorbenen Tierarten bleiben für immer verschwunden: Immer wieder geschieht es, dass vermeintlich ausgestorbene Arten wieder auftauchen. Dabei können zwischen dem Verschwinden und der Wiederauffindung schon mal einige Dutzend Jahre vergehen. Und gelegentlich auch einige Jahrhunderte, Jahrtausende oder gar Jahrmillionen. Den Rekord hält vermutlich der Quastenflosser. Dieser urzeitlichen Gattung der Knochenfische war nachgesagt worden, sie sei vor 65 Millionen Jahren ausgestorben, als sich im Jahr 1938 vor Südafrika so unverhofft wie lebendig ein Exemplar in einem Fischernetz verfing. Fast 60 Jahre später wurde auf Sulawesi in Indonesien gar eine zweite zeigenössische Art dieser seltenen Urzeit-Überlebenden entdeckt.

Es ist nicht verwunderlich, dass einzelne Arten sich in den  weitgehend unerforschten Tiefen der Weltmeere, oder in den undurchdringlichen, menschenleeren Regenwäldern der Tropen und Subtropen über lange Zeit zu verstecken vermögen. Doch einigen Todgeglaubten gelingt dies auch in unseren dicht bevölkerten und oft weitgehend natur-befreiten Breiten. So geschehen etwa mit der Bayerischen Kurzohrmaus (Microtus bavaricus), die ausschliesslich in den nördlichen Kalkalpen verbreitet ist und erst in den frühen 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entdeckt worden war. Ihre  Wiederauferstehung wurde im Jahr 2000 aufgrund neuer Funde aus dem Tirol genetisch nachgewiesen, nachdem sie fast 40 Jahre lang als neuzeitlich ausgestorben gegolten hatte.

Manchmal sind sogenannt ausgestorbene Arten für die lokale Bevölkerung keineswegs ausgestorben, sondern als mehr oder weniger geniessbare Beute wohlbekannt. Wer schert sich schon um den Überlebensstatus einer geniessbaren Tierart, wenn ihm der Magen knurrt. So wurde auch die oben erwähnte zweite Quastenflosser-Art  – die unter indonesischen Fisch-Gourmets keineswegs als Delikatesse, sondern als eher nicht besonders schmackhaft gilt – auf einem Fischmarkt wiederentdeckt. Ähnliches gilt für die Laotische Felsenratte. Sie gehört zu einem Verwandtschaftszweig der Nagetiere, der nur aus fossilen Funden bekannt war und als seit elf Millionen Jahren ausgestorben galt. Erst im Jahr 2005 wurden zuerst gegrillte Exemplare auf einem Laotisches Markt entdeckt, und ein Jahr später gelangen einem amerikanischen Professor Filmaufnahmen eines lebendigen Exemplars.

In Anlehnung an die biblische Geschichte des Lazarus, der nach seinem Tod wiedererweckt wurde, bezeichnet man das Wiederauftreten angeblich ausgestorbener Arten als Lazarus-Effekt. Gemäss einer im Jahr 2011 publizierten Studie sind die Menschen mit der Ausrufung einer Art zum Relikt nicht selten zu voreilig. Alleine von 180 während der letzen 500 Jahre angeblich ausgestorbenen Säugerarten sind unterdessen über 30% wieder aufgetaucht.

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