Nature | Stories

Geschichten zu Fauna und Flora

AusgestorbenFEATUREDSchweiz

Der verschwundene König

Text & Bilder: Jürg Sommerhalder

Das Prädikat “ausgestorben” wird nicht nur auf global sondern auch auch auf regional verschwundene Tier- und Pflanzenarten angewendet. Für das Territorium der Schweiz gelten aktuell 3 Prozent aller bekannten Arten als ausgestorben, weitere 5 Prozent als unmittelbar vom Aussterben bedoht, sowie 38 Prozent als gefährdet. Oder anders ausgedrückt: Mit einem Anteil von 54 Prozent machen die nicht bedrohten Arten nur gut die Hälfte der gesamten Schweizer Fauna und Flora aus.

Einige in der Schweiz ausgestorbene Arten kommen anderswo noch vor. Einer der prominentesten Vereter dieser Gruppe ist der europäischen König der Tiere: der Braunbär (Ursus arctos). In seinem Falle ist die Einwirkung des Menschen als Ursache des Aussterbens unbestritten. Zwar wurden hierzulande ab dem Jahr 2005 zum ersten Mal seit 82 Jahren wieder einzelne Exemplare gesichtet, bekanntlich handelt es sich bei ihnen aber nur um einige versprengte Einwanderer aus dem italienischen Trentino. Auch der 1904 in Scoul erschossene „letzte Schweizer Bär“ war wohl ein Migrant aus dem Südtirol, denn tatsächlich verschwanden die letzten heimischen Bär schon vor der Jahrhundertwende. Das letzte Exemplar des Mittellandes etwa hat im Kanton Zürich bereits im Jahr 1565 sein Jagdbeute-Schicksal ereilt.

Bären zählen zur Säugergruppe der Hundeartigen (Canoidea). Der Braunbär beansprucht von Nordamerika über Asien bis nach Europa  ein riesiges Verbreitungsgebiet. Er trägt zahlreiche Trivialnamen, so etwa ist mit Grizzly, Küstenbraunbär, Kodiakbär, Europäischem Braunbär immer dieselbe Art Ursus arctos gemeint. Abhängig von qualtitativen Unterschieden ihrer Lebensräume weichen Grösse, Gewicht und Aussehen von Braunbären-Populationen stark voneinander ab. Die fruchtbare Südküste Alaskas und der nahrungsreiche russische Kamchatka bringen Riesen mit mehr als einer halben Tonne Gewicht hervor. In Europa beheimatete Vertreter hingegen bleiben weitaus kleiner und erreichen nur die Hälfte dieses Gewichts.

Entgegen der allgemeinen Überzeugung ist der Braunbär kein reiner Räuber. Ganz im Gegenteil ernährt er sich zur Hauptsache von vegetarischer Kost. Seine tierischen Nahrungsanteile bestehen vorwiegend aus gefundenen Kadavern und Nagern. Auch Insekten sind eine willkommene Abwechslung: Das Ausheben eines Ameisennests zum Beispiel beschert Meister Petz kostbare eiweissreiche Larven.

Der Braunbär ist aber auch ein Meister der Effizienz und als Allesfresser ein Opportunist. Es entspricht seiner Natur, sich in seinem aktuellen Lebensraum die Nahrung zu beschaffen, die vorhanden ist und an die er mit wenig Energieverschleiss zu gelangen vermag. Findet er in der Nähe menschlicher Siedlungen ungesicherte Abfallcontainer sowie ungeschützte domestizierte Herdentiere, ist sein Interesse für derlei Nahrungsquellen eine logische Folge.

Das heutige Gebiet der Schweiz besiedelte der Braunbär während Jahrtausenden. Er beansprucht keine Reviere, die er gegen andere Tiere verteidigt. Vielmehr bewegt er sich innerhalb grosser Streifgebiete, und begegnet Artgenossen und anderen Arten mit der toleranten Gelassenheit eines wahren Herrschers. Der Braunbär war der unumstrittene König des Tierreichs – bis der Mensch damit begann, denselben Lebensraum weit weniger tolerant zu beanspruchen. Der Braunbär diente den Menschen schon immer als Symbol der Stärke. Noch heute ist er im Wappen von Städten und Kantonen sowie im Logo mancher Firma präsent. Würden wir uns auch seine Toleranz zu eigen machen, wäre der Braunbar ein gutes Beispiel dafür, dass wir Teile des angerichteten Schadens durchaus wieder gut machen können.

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